EMV in der Medizintechnik: Die 4. Ausgabe der IEC 60601-1-2

Die 60601-1-2 ist die EMV-Norm zur 60601 Normenfamilie, d. h. dass sie prinzipiell für alle medizinischen elektrischen Geräte gilt. Der ausführliche Name der Norm DIN EN 60601-1-2:2016 lautet:

„Medizinische elektrische Geräte – Teil 1-2: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Elektromagnetische Störgrößen – Anforderungen und Prüfungen“

Die neue Ausgabe hat viele interessante Änderungen und neue Schwerpunkte:

  • Die zunehmende Anwendung von Medizinprodukten im häuslichen Umfeld wird berücksichtigt. Beim häuslichen Umfeld handelt es sich nicht um kontrollierte Umgebung wie im Krankenhaus mit Anwendung durch professionelle Benutzer.
  • Außerdem wird die Verbreitung von mobilen Geräten mit Funkschnittstellen zum ersten Mal angemessen berücksichtigt. Diese erfordern hohe Störfestigkeiten aufgrund der räumlichen Nähe und der weiten Verbreitung.
  • Die Risikobewertung wird wichtiger, was aufgrund der großen Unterschiede zwischen verschiedenen Medizingeräten (vom Gerätewagen bis zum Computertomographen) sinnvoll ist. In der Risikoanalyse kann der Hersteller selbst am besten den Einfluß von Risiken auf Basissicherheit und wesentliche Leistungsmerkmale bewerten und Maßnahmen definieren. Daraus ergeben sich dann auch Tests, die in einem Testplan dokumentiert sein müssen.

Die meisten Medizingerätehersteller haben mit der Umstellung schon begonnen und Neugeräte können schon seit 2016 in der EU nach der neuen Ausgabe getestet und zugelassen werden. Man darf aber nicht vergessen, dass ab 1.1.2019 ältere, schon lange zugelassene Geräte in der EU nicht mehr auf den Markt gebracht werden dürfen, wenn sie die 4. Ausgabe der 60601-1-2 nicht erfüllen!

 

Anforderungen in der neuen Ausgabe

 

Wenn man die 3. und die 4. Ausgabe der Norm betrachtet, dann findet man viele Unterschiede. Um einen Eindruck der Änderungen zu geben seien folgende genannt:

  • Früher wurde das Gerät betont, jetzt liegt der Fokus auf dem Umfeld. Deshalb entfällt z. B. die Kategorie „lebenserhaltendes Gerät“, dafür gibt es jetzt die drei Bereiche klinisches Umfeld, häusliches Umfeld und spezielle Umgebung wie z. B. militärische Anwendung. Der Fokus liegt jetzt auf Erfüllung der Basissicherheit und der wesentlichen Leistungsmerkmale.
  • Die Anforderungen an die Störfestigkeit und Störabstrahlung hängen ab vom Einsatzort.
  • Höhere Testpegel für ESD bis zu 15 kV für Luftentladung, wobei die Norm empfiehlt, bei Bedarf auch höher zu testen. Außerdem werden Stecker jetzt anders getestet.
  • Die Prüfkriterien sind mit der 4. Ausgabe abhängig von der Umgebung, in der das Gerät eingesetzt werden soll.
  • Die Feldstärke für magnetische Felder wurden auf 30 A/m erhöht und damit verzehnfacht.
  • Tests für elektrische Transienten wurden eingeführt für Geräte, die in Fahrzeugen eingesetzt werden sollen.
  • EMV muß auf jeden Fall im Risikomanagement betrachtet werden.
  • Ein EMV Testplan wird benötigt.
  • Neue Anforderung an Störfestigkeit für ISM-Frequenzbänder mit bis zu 28 V/m.
  • Störfestigkeit wird jetzt bis 2,7 GHz getestet (bisher 2,5 GHz). Die Anforderungen ändern sich ansonsten vor allem bezüglich der Einteilung der Umgebung.
  • Es wurde definiert, wie mit auftretenden Fehlern während der Störfestigkeitsprüfung umgegangen werden soll.
  • Die Referenzen auf andere Normen besitzen jetzt alle eine Datierung, d.h. es wird immer auf eine bestimmte Version einer anderen Norm referenziert. Bei der 3. Ausgabe wurde dies nicht konsequent so gemacht, was zu einigen Unstimmigkeiten und Unklarheiten führte. Dies führt aber auch dazu, dass nicht mehr unbedingt die aktuellen Versionen der Normen referenziert werden (so gibt es z. B. schon eine neuere Ausgabe der CISPR 11).

 

Ihr Ansprechpartner:
Dipl.-Ing. Martin Bosch, Gesellschafter, Hardware-Entwickler
E-Mail: bosch@medtech-ingenieur.de
Tel.:  +49 9131 691 241
 

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Aber keine Angst, die neue Norm ist durchaus sinnvoll und bietet in den Anhängen viele Hinweise, wie das Risiko-Management aussehen kann und mit welcher Intention getestet werden soll.

Risikomanagement

Im Risikomanagement muss sich der Gerätehersteller mit den wesentlichen Leistungsmerkmalen des Gerätes befassen. Er muss passende Störfestigkeitspegel wählen, um sicherzustellen, dass das Risiko eines Fehlers oder fehlerhaften Verhaltens möglichst gering ausfällt. Diese Pegel könnten auch höher sein, als die in der Norm geforderten. Die Behandlung im Risikomanagement ermöglicht aber auch, dass Risiken auf andere Weise reduziert werden, z. B. durch Statusmeldungen, Warnhinweise oder ähnliches, was nach der 3. Ausgabe nicht möglich war. Es ist also für den Gerätehersteller wichtig, dieses Konzept und die dahinterliegende Philosophie der wesentlichen Leistungsmerkmale und Basissicherheit zu verstehen! Wesentliche Leistungsmerkmale lassen sich dadurch erkennen, dass ihr Fehlen oder eine Verschlechterung zu einem unvertretbaren Risiko führen würde. Werden Sie sich also klar, was bei Ihrem Gerät die wesentlichen Leistungsmerkmale sind und wie die Basissicherheit sichergestellt wird. Dann kann man auch bewerten, ob diese Merkmale und Funktionen durch elektromagnetische Störungen beeinflusst werden können und wie man das testen kann.

Auch muss nicht unbedingt jedes Gerät die Anforderung für Störfestigkeit gegen 28 V/m bei den ISM-Frequenzen erfüllen – aber nur falls dadurch kein Risiko auftritt.

Am einfachsten ist es, wenn man für die wesentlichen Leistungsmerkmale auf die Teil 2 Normen zurückgreifen kann. Aber manchmal müssen Sie als Herstellen aus Ihrer eigenen Erfahrung Anforderungen definieren. Zum Beispiel auch, wenn es um spezielle Betriebsarten und Einstellungen während der Prüfung des Gerätes geht.

 

Störfestigkeit

Folgende Tabelle zeigt einige der Änderungen bezüglich der Störfestigkeit (nach Tabellen 4, 5 und 6 der IEC 60601-1-2):

  Prüfung 3. Ausgabe 4. Ausgabe
ESD nach
EN61000-4-2
Kontaktentladung Luftentladung ± 2, 4, 6 kV
± 2, 4, 8 kV
± 2, 4, 8 kV
± 2, 4, 8, 15 kV
Störfestigkeit gegen gestrahlte Felder nach EN61000-4-3 Gehäuse 3 V/m, lebenserhaltendes Gerät  10 V/m
80% AM at 1 kHz oder 2 Hz,
80 MHz bis 2500 MHz
3 V/m, Home healthcare 10 V/m
80% AM at 1 kHz oder kritische Frequenz,
80 MHz bis 2700 MHz
Schnelle Transienten und Burst nach EN61000-4-4  AC mains or DC input
I/O Ports
± 2kV, 5kHz
Pulse Repetition Frequency
± 1kV, 5kHz
Pulse Repetition Frequency
± 2kV, 100kHz
Pulse Repetition Frequency
± 1kV, 100kHz
Pulse Repetition Frequency

Viele Störfestigkeitstests entfallen an Kabeln, die kürzer sind als 3 m. Beachten Sie aber Länderabweichungen! Für USA sollen z. B. auch Kabel kürzer als 3 m getestet werden.

Eine große Änderung mit der neuen Ausgabe ist die Anforderung für Störfestigkeit gegen gestrahlte Felder in ISM-Frequenzbändern – ein sehr sinnvoller Test bei der weiten Verbreitung von Handys und anderen Funkgeräten. Die Anforderungen zeigt folgende Tabelle (nach Tabelle 9 der 4. Ausgabe):

Service Prüffrequenz in MHz Band in MHz Modulation Prüfpegel
TETRA 400 385 380 – 390 18 Hz Puls Modulation 27 V/m
GMRS 460, FRS 460 450 430 – 470 1kHz Sinus FM-moduliert ± 5 kHz 28 V/m
LTE Band 13, 17 710, 745, 780 704 – 787 217 Hz Puls Modulation 9 V/m
GSM 800/900, TETRA 800, iDEN 820, CDMA 850, LTE Band 5 810, 870, 930 800 – 960 18 Hz Pulsmodulation 28 V/m
GSM 1800, CDMA 1900, GSM 1900, DECT, LTE Band 1, 3, 4, 25; UMTS 1720, 1845, 1970 1700 – 1990 217 Hz Pulsmodulation 28 V/m
Bluetooth, WLAN, 802.11 b/g/n, RFID 2450, LTE Bamd 7 2450 2400 – 2570 217 Hz Pulsmodulation 28 V/m
WLAN 802.11 a/n 5240, 5500, 5785 5100 – 5800 217 Hz Pulsmodulation 9 V/m

 

Der Abstand zur Antenne darf bei diesen Tests auf bis zu 1 m reduziert werden, was nötig sein kann um die angegebenen Feldstärken zu erreichen.

Testplan

Der EMV-Testplan wurde auch nach der 3. Ausgabe oft schon erstellt. Jetzt ist der Testplan als Anforderung in der Norm definiert. Ein Anhang der 4. Ausgabe gibt Hilfestellung bei der Erstellung und zeigt nötige Inhalte, die unter anderem folgendes enthalten müssen:

  • Beschreibung des Systems
  • Zweckbestimmung und Betriebsumgebung
  • Wesentliche Leistungsmerkmale
  • Wesentliche Funktionen
  • Pass / Fail Kriterien
  • Methoden der Überwachung
  • Anzahl der Prüflinge
  • Prüfpegel für die Störfestigkeitstests
  • Simulatoren und andere Testmittel
  • ESD-Prüfpunkte

 

 

Zeitplan

Im Jahr 2014 wurde die IEC 60601-1-2 in der 4. Ausgabe veröffentlicht und 2016 dann als DIN EN in einer deutschen Ausgabe veröffentlicht. In der EU gilt eine Übergangsfrist bis 31.12.2018. Das heißt, ab nächstem Jahr gilt nur noch die 4. Ausgabe der -1-2!

Derselbe Termin gilt übrigens auch für die USA, nachdem die Übergangsfrist von der FDA mehrmals verlängert wurde. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen USA und EU: In der EU müssen alle medizinischen elektrischen Geräte, die nach der 60601-1 getestet werden und nach dem 31.12.2018 auf den Markt gebracht werden die 4. Ausgabe der 60601-1-2 erfüllen. In den USA gilt ein Bestandsschutz: Geräte, die schon zugelassen sind nach der bisherigen Ausgabe der Norm, dürfen weiter produziert und verkauft werden. Erst bei Änderung oder Neuzulassung des Gerätes muss die neue Ausgabe erfüllt werden.

Für manche Länder wie z. B. China kann es nötig sein, nach einer älteren Ausgabe zu testen, wenn diese Länder für die Zulassung noch die 2. Ausgabe der 60601-1 verlangen.

 

 

Unser Vorschlag zum Vorgehen

 

Haben Sie Zeitdruck und würden gerne ohne viele Schwierigkeiten die Umstellung auf die neue Ausgabe schaffen? Dann können Sie unsere Kontakte und unsere Methodik nutzen. Wir unterstützen Sie gerne bei den folgenden Schritten:

  • Erstellen Sie auf der Basis Ihres Gerätes eine Gap-Analyse. Die Gap-Analyse sollte folgende Fragen beantworten und die nötigen Dokumente ergeben:
    • Welche Tests müssen wiederholt bzw. durchgeführt werden?
    • Erstellung des EMV-Testplans.
    • Welche Änderungen und Ergänzungen sind an den Risikomanagement-Dokumenten nötig?
    • Welche Nachuntersuchungen sind nötig? Ergeben sich dabei Änderungen an der Schaltung um die höhere Störfestigkeit zu erreichen?
  • Sprechen Sie frühzeitig mit Ihrem EMV-Prüflabor
  • Vor dem eigentlichen Test sind Vortests empfehlenswert, um Kosten zu sparen und den Zulassungstest planbarer zu machen.
  • Schließlich erfolgen die Tests in einem externen EMV-Labor. Wir können Sie auch gerne bei der Betreuung der Tests unterstützen.

Fazit

Die Konformität zur 4. Ausgabe erfordert zusammengefasst folgende Punkte:

  • Einen Testplan
  • Eine bestandene Prüfung für die in der Norm geforderten und im Risikomanagement ermittelten Prüfungen
  • Einen Prüfbericht, der die Kriterien aus Kapitel 9 der 4. Ausgabe erfüllt.
  • Einen Risikomanagement-Prozess, wie er ausführlich in Anhang F erläutert wird.
  • Ein normkonformes Typenschild und Hinweise am Gerät, ebenso wie Hinweise in der technischen Dokumentation.

 

In diesem Artikel wurden die 3. Ausgabe der 60601-1-2 von 2007 und die 4. Ausgabe von 2015 (IEC) verglichen. Die Änderungen sind sinnvoll und nötig um den Anforderungen der modernen Umwelt gerecht zu werden. Aber Sie sollten sich bewußt sein, dass eine bestandene Prüfung nach der 3. Ausgabe nicht unbedingt Konformität mit der 4. Ausgabe bedeutet, ebenso wie umgekehrt Konformität mit der 4. Ausgabe nicht unbedingt Konformität mit der 3. Ausgabe zur Folge hat. Dazu sind Fokus und Tests in den beiden Ausgaben der Norm zu unterschiedlich.

Gerne unterstützen wir Sie bei den EMV-Tests mit Messgeräten, Erfahrung und Kontakten zu EMV-Spezialisten und Laboren. Und vergessen Sie nicht, bis Ende 2018 sollten alle Tests durchgeführt sein!

Viele Grüße
Martin Bosch

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Autor

  • Martin Bosch

    Martin Bosch ist ein Vollblut Hardware-Entwickler und lebt seine Leidenschaft für Elektronik-Entwicklung in der MEDtech Ingenieur GmbH aus. Sein Schwerpunkt der Entwicklung von Embedded Elektronik für medizinische Anwendungen. Embedded Elektronik bedeutet hierbei den Entwurf von Leiterplatten und Schaltungen mit Mikrocontrollern und analoger Schaltungstechnik für verschiedenste Geräte, von Blutanalyse-Geräten bis zu Defibrillatoren.

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